Jetzt im Lenz, wenn alle kleinen Knospen springen,
in Grünau die ersten Finken leise singen:
Zuckt es durch die Großstadt hin,
Tippmamsell und Schneiderin,
jeder Mann hat seine Brautens,
eins, zwei, drei, vier.
Kleine Mädchen kommen in die Lenzeswochen.
Strohhut raus! Hier können Familien Kaffee kochen.
Lenchens weiße Fahne
in der Vorortbahne
wird zerknautscht, wie kam das bloß
auf einen fremden Schoß.
Der Chef im Auto, Maxe auf dem Rad,
was eint denn schließlich doch die ganze Stadt?
Das ist der Herzschlag, der zusammenhält,
süß eingehakt in einer Flammenwelt!
Steigt der Tarif und steigt der Streuselkuchen und das helle Bier,
die Nase hoch! Denn uns kann keiner. Mensch! Vastehste: wir sind wir!
Solang der Dampfer puckert zur Abtei,
sich Pärchen knutschen im April und Mai,
wir Arm in Arm ins Freibad gehn:
Da sag ich nein! Ein‘ solche Stadt, die darf nicht untergehn!
Auszug aus: Das ist der Herzschlag, Theobald Tiger (Kurt Tucholsky)
Schall und Rauch, 1920, Nr. 17.
Irgendwann möchte ich es einmal schaffen, einen Blogpost so ohne weitere Worte stehen zu lassen. Kann ich aber nicht. Daher drei Anmerkungen.
Zu den Bildern:
Die Vorlagen stammen wieder aus der Zeitschrift Berliner Leben, via ZLB, Jahrgänge 1904 bis 1909. Diesmal habe ich mit Photoshop mehr schlecht als recht ein bisschen Farbe zugegeben. Von solchen nachträglichen Aufhübschungen hielt ich auch nicht viel, bis ich diese wirklich atemberaubenden Colorierungen alter Schwarz-Weiß-Fotos sah. Ich wünschte, das könnte ich auch. Es tut mir ja schon lange leid, dass die alten Fotos das Leben damals so fremd erscheinen lassen, obwohl sich die Spaziergänger draußen auch im Mai vor hundert Jahren über das Hellgrün und den duftenden Flieder in weiß und violett freuten.
Das Colorieren ist nicht nur ein technischer Aufwand, man muss auch recherchieren. Welche Farben hatten zum Beispiel die Uniformen der beiden Herren im ersten Bild? Ich bin nur so weit gekommen, dass es wahrscheinlich Ausgehuniformen der preußischen Garde waren, aber das ist ein sehr weites Feld. Im Männern-sei-Dank-Internet scheinen Uniformfragen im Gegensatz zu den ‚weiblichen‘ Kleidungsthemen sehr gut abgedeckt.
(Andere Beiträge zu den von der ZLB gemeinfrei gestellten Digitalisaten: „Berliner Leben im Mai vor 100 Jahren„, „Parkbilder über den Atlantik„, „Berlin macht Ferien“ und „Runde Schönheiten und ein Kuchenstück“ .)
Zum Gedicht:
Zwischen Tucholskys „Das ist der Herzschlag“ und den Bildern aus der Kaiserzeit liegen nur etwas mehr als zehn Jahre, aber das „Flammenmeer“(?) des 1. Weltkriegs war ein tiefer Einschnitt. Nicht zu allen Bildern im Text fiel mir etwas ein. Ideen zu Lenchens zerknautschter weißer Fahne nehme ich gern noch entgegen, da bin ich mir nicht schlüssig. Ihr Kleid, ein Fähnchen? So bin ich überhaupt auch zu dem Text gekommen – beim Recherchieren zu ‚die weiße Fahne hissen‘ für die Redensarten-Sammlung.
Das Gedicht gab es 1920 offenbar auch als Lied, vom Kabarettisten Paul Graetz.
Zum Kaffeekochen:
„Strohhut raus! Hier können Familien Kaffee kochen“ bezieht sich auf einen sehr interessanten Brauch von dem ich wünschte, es gäbe ihn noch heute.
Friedrich II. hatte ja viele Ausländer wie Böhmen und Sachsen ins Land gelassen. Die Kolonisten siedelten sich auch in Gegenden rund um Berlin an, in denen es regen Ausflugsverkehr gab. Folgerichtig wollten sie gern Lokale im Grünen eröffnen. Die vor allem aus Sachsen stammenden Kolonisten im heutigen Berlin-Treptow hatten um 1800 eine gute Idee, wie sie die notwendige Getränkekonzession vermeiden konnten. Sie verkauften lediglich heißes Wasser und verliehen Geschirr, die Berliner brachten sich das Kaffeepulver und den Kuchen selbst mit. So umgingen die Gastwirte die Genehmigungspflicht und konnten eine günstige Einkehrvariante anbieten, die ein voller Erfolg wurde.
Die Geschäftsidee unter dem Slogan „Hier können Familien Kaffee kochen“ verbreitete sich schnell auch außerhalb Berlins und hielt sich bis ins 20. Jahrhundert. Tucholsky benutzt die Wendung für das Kleinbürgermilieu insgesamt, wenn er in einem Brief 1935 schreibt:
„Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas –: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahingegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.„
Warum ich das auch heute noch gern hätte? Weil mir der Kuchen in den meisten Ausflugslokalen nicht schmeckt, Kaffee und Tee mau und die Bedienungen oft unterbesetzt / überfordert sind. Da würde ich mir dann lieber gegen eine Gebühr meinen eigenen Kaffee oder Tee aufbrühen und mich in Frieden mit meinem Picknick und dem Leihporzellan an einen Tisch setzen. Wer weiß, vielleicht kommt das ja mal wieder.
Ich schließe mit einem Zitat von Friedrich dem Großen, der im Juni 1740 weiter war als wir jetzt:
„Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land bevölkern, dann würden wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.“
In diesem Sinne: Frohe Pfingsten!
Das Zitat vom alten Fritz an die Adresse der Bräunlichen, die haben ihn doch gerne für sich vereinnahmt, da könnten sie dann mal drüber nachdenken.
Wie immer, ein höchst interessanter Post.
Schöne Pfingsten & liebe Grüße,
Susa
Nun, hier in Franken können die Familien zwar nicht Kaffeekochen, doch das Mitbringen einer eigenen Brotzeit auf den Keller ist gestattet. Ebenso der Verzehr derselben. :-)
Oh wie fein. Ja, da bei euch, da ist das Kulinarische ohnehin ein Traum. Zum Glück bin ich nachher zum Schäufeleessen eingeladen!
… mir gefallen vor allem die schwarzweißen Radler vor Himmelblau & Schäfchenwolken…
Das ist lustig, weil ich nämlich gerade gelesen haben, dass diese alten Fotos keinen Himmel darstellen konnten – man weiß also gar nicht, ob er blau war und ob es Wolken gab, muss man sich dann eben selbst ausdenken. Danke fürs Vorbeischauen!
Ich kann mich noch dran erinnern, dass es im (Ost-)Berlin der Achtziger diese Blechschilder „Hier können Familien Kaffee kochen“ immer mal wieder bei Trödlern zu kaufen gab, und die Redewendung bei meiner Oma als augenzwinkernde Beschreibung von sonntäglichen Massenvergnügungen mit spießigem Touch gebraucht wurde. Hab ich schon viel zu lange nicht mehr gehört … :-) Danke dafür!
Es freut mich, wenn Du Deine „Funde“ kommentierst, weil dadurch eine zusätzliche Ebene in den Beitrag kommt: Ich erfahre, was Dich an der Redewendung oder dem Foto fasziniert hat.
Tucholsky ist mir letztens wieder mal in die Hände gefallen, vieles fand ich erstaunlich aktuell.
Auch ich halte immer Ausschau nach regionalen textilen Bezügen in Thüringen, das ist dann doppelt heimatlich.
LG Ute