Wohin das Herz uns treibt

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Ein brodelnder Vulkan? Er ist Teil eines Stickbuchs aus der Zeit um 1800.  „Zeichen-Mahler und Stickerbuch zur Selbstbelehrung für Damen, Zweiter Theil“ von Johann Friedrich Netto. Und daneben dann unten rechts auch noch ein Sarg? Gegenüber ein Füllhorn?

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Bei diesem Fundstück in der Online-Collection des Metropolitain Museums handelt es sich zwar um die in der damaligen Zeit üblichen dekorativen Themen. Ich fühlte mich aber doch an eine Diskussionen erinnert, die in den Büchern über die Geschichte der Handarbeiten immer wieder auftaucht.

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Der Frage nämlich, ob Handarbeiten als Beschäftigung für bürgerliche junge Mädchen eben gerade verhindern sollte, dass sie auf dumme Gedanken kommen. Oder ließen die jungen Frauen über der stumpfsinningen Tätigkeit ihren Geist in verbotene Gefilde wandern?

Handarbeitserfahrene Lehrerinnen damals schienen letzteres zu ahnen, denn die Handarbeitsstunden wurden zugleich dazu genutzt, Französisch zu üben und Geschichten vorzulesen. Auch waren Handarbeiten für Leseratten damals ein willkommener Vorwand, ein Buch lesen zu dürfen. Wenn man „sinnvoll“ mit Strumpfstricken beschäftigt war, drückte Mutter wohl ein Auge zu und ließ das „unnütze“ Lesen durchgehen.

Meyer von Bremen Strickendes lesendes Mädchen 1863Quelle
Erasmus Engert - Viennese Domestic Garden - WGA07524Quelle

Abhandlungen über die Geschichte der Handarbeiten gibt es nicht sehr viele. Und je nach feministischer Ausrichtung gehen die Schilderungen meist von der These aus, dass Handarbeiten als Unterdrückungsinstrument benutzt wurde. Das ist natürlich schrecklich verkürzt.  Gerade wenn man – wie ich –  voller Bewunderung auf die damaligen Kunstfertigkeiten schaut, wünscht man sich eine differenziertere Betrachtungsweise.

Daran wurde ich bei diesem BBC-Film über die textilen Künste in Indien erinnert. (Zur Zeit noch auf arte+7 zu sehen).

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Bodentuch, 12 Meter lang, Seidenstickerei auf Baumwolle

Der Reporter reist voller Begeisterung auf der Suche nach alten textilen Techniken durch das Land. Unter anderem zeigt er auch prachtvoll  bestickte Gewänder für die Mitgift, an denen Mädchen und Frauen der Nomaden in jeder freien Minute arbeiten. Dieser Brauch wurde allerdings inzwischen unter Strafe gestellt. Die Mädchen sollen stattdessen zur Schule gehen und sich nach einer Arbeit umsehen. „Wenn man heute noch seine Kinder sticken lässt, geht das zulasten ihrer Bildung“ sagt eine Mutter in dem Film.

So schließt sich der Kreis zu den handarbeitenden Bürgertöchtern in unserer Vergangenheit.  Gerade lese ich die Tagebuchaufzeichnungen einer, der Lesen und Bildung tausendmal wichtiger war als das lästige Nähen, das aber nötig war, um die Haushaltskosten niedrig zu halten.

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Die Geschichte der Handarbeit ist voller Ambivalenzen und es macht Spaß, in alten Quellen  nach Spuren zu suchen. Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich, dass die Kunstfertigkeiten wirklich verloren sind. Irgendwo wird es immer jemanden geben, der sich damit beschäftigt. Und wenn man genug Energie hineinsteckt, dann kann man auch an die alte Meisterschaft heranreichen. Diesmal dann ganz freiwillig.

11 Kommentare

  1. Jetzt sehe ich auf meiner Seite gleich, wenn jemand, in dem Fall du, etwas neues gepostet hat – genial.
    Und dann wieder so ein toller Bericht. Ja, es ist schon erstaunlich, wie Handarbeit je nach Zeit und Ort für ein bestimmtes Stigma steht.
    Heute steht es in unserer Gesellschaft an unserem Irt irgendwie zwischen den Stühlen zwischen anerkannt und verpönt, aber auf jeden Fall nicht bürgerlich oder an der Bildung hinderlich….
    Schade, dass es dann wie in dem Film beschrieben in „Indien“ nur ja oder nein gibt.

    • Die Sache mit dem Verbot wird hier näher erklärt: http://handeyemagazine.com/content/banned-legacy
      Im Detail ist es dann doch wieder nicht so simpel. Aber interessant: Befreiung der Frau / Niedergang eines Kulturgutes. Da wird es offen angesprochen. Fällt es uns leichter, den Verlust „exotischer“ Fertigkeiten zu beklagen als den Verlust vermeintlich stumpfsinniger Tätigkeiten, die unsere Groß- oder Urgroßmütter noch erlernten?

  2. Spontan kommt mir angesichts dieses angeblichen „Zwangs“ zur Handarbeit „um die Mädchen dumm zu halten“ der Gedanke, dass diese Interpretation ja auch ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass formale intellektuelle Bildung alles ist, was zählt. Ich finde, dass bei dieser Interpretation, auch wenn sie sich selbst wohl als feministisch motiviert bezeichnet, die Leistungen der Frauen um 1900 gering geschätzt werden. Schon allein weil es erheblich komplizierter und mit mehr Planung und Voraussicht als heute verbunden war, einen Haushalt zu führen, auch mit Hausangestellten. Und das haben diese Frauen hingekriegt, ohne höhere Mathematik. Und rational betrachtet haben z. B. pseudowissenschaftliche Diskurse von Männern über die angeblichen intellektuellen Defizite von Frauen und ihre drohende „Vermännlichung“, sollten sie sich mit Wissenschaft beschäftigen, um 1900 die Frauen unterdrückt und Bildung verhindert. Nicht Stickbücher. Und wenn ich mal davon ausgehe, dass sich im frühen 19. Jh. die meisten Männer ebensowenig wie heute für kunstvoll gestickte Bildchen des Vesuvs interessiert haben, dann fände ich es schon merkwürdig, wenn solche Handarbeiten ausgerechnet als ein Unterdrückungswerkzeug des Patriarchats gesehen werden. (Nach diesem Argumentationsmuster könnten Technikgadgets und Fussball dann subversive und sehr, sehr erfolgreiche Strategien der Frauen sein, um Männer ruhigzustellen und währenddessen den Umsturz zu planen).

    • :-D
      Du sprichst mir aus der Seele. Besonders das oberste Buch auf dem Foto ist in dieser Hinsicht sehr penetrant. Eigentlich stand in meinem Artikel noch folgender Einschub, aber das wäre dann alles zu viel geworden:

      „(Ein bisschen erinnert mich das an die Zeit, als ein Haufen Bücher darüber veröffentlich wurde, wie mies Paula Becker von ihrem Ehemann Modersohn behandelt wurde. Wieso stand ihr Werk nicht im Vordergrund? Oder Gabriele Münter: Es gab keinen vernünftigen Bildband über ihr Schaffen, aber Bücher darüber, wie sie unter Kandinsky litt. Für mich ist das wie eine zweite Zurücksetzung. Die Frau ist wegen ihres Mannes interessant und ihr eigenes Werk wird verniedlicht. Aber das hat sich inzwischen geändert, zum Glück. Es gibt schöne Bildbände für beide Frauen. )“

  3. Lucy, das war gut. Sebastian Vettel als Rattenfänger von Hameln. :)

    Suschna, die aufwändigen Techniken werden sicher erhalten bleiben, in Museen hinter abgedunkelten Vitrinen oder im Archiv . Wie Dinosaurierknochen als Relikte aus einer anderen Zeit.
    Wenn du dir die Sachen in London in Erinnerung rufst, einen derartigen Aufwand für ein Kleidungsstück können sich heutzutage nicht mal die Couture-Ateliers mehr leisten. Die zeitraubenden Stickereien in der Konfektion werden in Fernost hergestellt, da ist aber der textile Hintergrund ein ganz anderer. Das ist meist viel plakativer und bei weitem nicht so ziseliert wie früher.

    Kennst du eine junge Frau, die eine Wollsocke noch so gut stopfen kann (und will) wie deine Oma?
    Ich kann zwar hoffen, dass die Horden sockenstrickender Twens sich die Arbeit machen, ihre selbstgemachten Socken auch zu stopfen. Aber sicher bin ich mir da nicht. Ein neues Paar ist ja viel netter zu stricken.
    Früher ganz alltägliche Sachen wie die Weißnäherei sterben aus.
    (Wer würde auf die Idee kommen, ein Jerseybettuch zu flicken?)

    Aber es gibt noch Hoffnung: Mit dem Kreativhype werden Dinge wie das Handspinnen wieder aus der Versenkung geholt.
    Wer hätte das vor fünf Jahren gedacht…

  4. Danke für den wunderbar bebilderten Beitrag!
    Ich wehre mich dagegen, dass das alles, was Frauen an wunderbaren textilen Werken geschaffen haben, als weibliches Kunstgewerbe ( O-Ton meines Schwagers, Kunsthistoriker & – Mäzen ) abgetan oder als Mittel der Unterdrückung diffamiert wird.
    Die wirklichen Unterdrücker waren, wie Lucy richtig schreibt, die Männer, das sollte man dabei nicht vergessen & Handarbeiten als Ausdrucksmöglichkeiten der Frauen in dem Rahmen, der ihnen zugestanden wurde, sehen.
    Mehr davon!
    Astrid

  5. Wie ich gerade feststelle, wäre heute abend eine gute Gelegenheit zur Revoltution. Alle Männer in der Kneipe.
    Das mit dem Sockenstopfen ist auch schon wieder ein weites Feld. Da heutzutage die Socken und Spannbettücher oft so schrottig sind, kann man auch gleich Putzlappen draus machen. In letzer Zeit habe ich aber an hochwertigen Stücken ganz schön herumgeflickt und trage sie nun weiter (auf). Das ist aber alles so unsexy, dass man kaum drüber berichten mag. Auf Englisch heißt es wenigstens noch „make do and mend“, das hört sich schmissiger an.

  6. Ein so weites Feld!Und ich finde auch Handarbeiten als Unterdrückung der Frau wird es nicht gerecht, ist so plakativ Frauenbwegung..Im 19.Jh. sind die Männer noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass Frauen ihnen evtl.Ihren Platz im Beruf streitig machen könnten.Und die Doktorarbeit in der ich auch lese, zeigt ja wie unterschiedlich die Lehransätze und Prioritäten in den Mädchenschulen schon in so enger geografischer Nähe waren.Wann immer sich auch weiblichen Tugenden herausgebildet haben oder so benannt wurden, diese wollte man bewahren. Wir sprechen von einer ganz bestimmeten Schicht! Die Männer wußten wahrscheinlich aus eigener Erfhahrung, auf welchen Blödsinn man kommt, wenn man außer Haus freie Hand hat.
    Dass Mädchen auch ganz anders groß werden können, zeigen immer mal wieder historische Beispiele, wo Väter durchaus angesichts fehlender Söhne oder überbordener Liebe ihren Töchtern Dinge ermöglichten, die außerhalb der Konventionen lagen.
    Dass der Stellenwert der Handarbeiet in der Geschichte so gering aufgearbeitet ist, liegt wahrscheinlich im Wesen der Frauen selbst. Eigene Dinge werden als selbstverständlich genommen und Leistung auch noch oft in Frage gestellt. Was Testosteron gesteuerten Menschen ganz anders leben. Wieviel Frauen von verstorbenen Künstlern gibt es , die sich zur Aufgabe gemacht haben bzw. hatten, das Werk des Mannes hochzuhalten, der Nachwelt würdig zu erhalten von Stiftung bis zu Biografien etc.pp. Zeige mir den Mann, der das Werk seiner Frau öffentlchkeitsreif aufgearbeitet hat, damit es nicht vergessen wird! Arbeiten für den Ruhm anderer, das machen nur Frauen.

  7. Ein ebenfalls guter Text und Kommentare, mit Denkanstößen in die richtige Richtung. Vor allem vor dem Hintergrund der unnötigen aufgeschaukelten Diskussion der letzten Tage (ich bin über den Kommentar bei Melleni hierhergekommen). Eine Stimme der Vernunft. Bravo!

    Dürfte ich den Post bitte eventuell bei mir re-bloggen?
    Das wäre schön!

    Danke und viele Grüße, Sathiya

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