Probierdamen und Idealmaße 1900

Eine Werbung von ca. 1914 für „Gelbstern“-Sekt, daneben zwei entzückte Damen, die jeweils einen gelben Stern auf dem Ärmel tragen.

Merkwürdig passend dazu Romane, Theaterstücke und Filme aus der Zeit:

-„Gelbstern“ (Emma Vely, 1898)
-„Fräulein Gelbstern“ (Hans Land, 1905)
-„Gelbstern“, ein Milieustück aus der Berliner Konfektion. (Jacques Burg und Walter Tuszinsky, 1908)
-„Gelbstern” (1912, Regie OttoRippert)
-„Fräulein Gelbstern“ (Magda Trott aus der Reihe „Süße Geschäftsmädels“, ca. 1923)
-„Gelbstern und Die kleine Midinette“ (1922; R: Wolfgang Neff)
-„Gelbsterne“ (Josephine Schönermarks bzw. Schade-Hädicke, 1925)

Was hat es damit auf sich?

Von Gelbsternen las ich zum ersten Mal, als ich Brunhilde Dähns Buch „Hausvogteiplatz“ in die Hände bekam. Ich war, wie wohl jede mit deutschem Geschichtswissen, zunächst geschockt. Was ist das? Wieso gab es 1900 schon gelbe Sterne? Aber nach einigem Weiterlesen verstand ich: Der gelbe Stern auf einem Jackenärmel im Konfektionsgeschäft war um die Jahrhundertwende ein ganz harmloses Zeichen für eine Kleidergröße und bezeichnete, mehr noch, den Typ Frau mit Idealmaßen, der diese Kleidung vorführen konnte.
Der Ausdruck „gelbe Figur“ oder auch Gelbstern entstand in den Jahren vor 1900, als in den Kaufhäusern die angebotenen Modelle von Verkäuferinnen vorgeführt wurden. Die Kundinnen probierten nicht selbst an, das Umziehen in einer Umkleide im Kaufhaus wäre unschicklich gewesen. Je nach Figur der Kundin gab es passende „Probiermamsells“ für die Kleidungsstücke.  Und für jede Größe galt ein andersfarbiger Stern: weiß, blau, gelb, grün, rot.  Die Probierdamen wurden ihrer Maße entsprechend nach Sternen benannt.

So ist dann auch die Beschreibung eines Konzertpublikums im Berliner Lustgarten 1900 zu verstehen:
„Es ist um die Mittagszeit, etwa ein Uhr. Die Konfektionsdamen vom Werderschen Markt und dem Hausvogteiplatz, Gelbstern, Grünstern und Rotstern, finden sich ein, desgleichen die jungen Leute aus den Warengeschäften und Comtoiren der City …“ .

Gelbstern, Grünstern, Rotstern, welche Maßen hatten sie denn?

Brunhilde Dähn schreibt:
„Die Idealmaße jener Zeit entsprachen auch den Proportionen des „Fräulein Gelbstern“ mit einer — nur nach dem Busenmaß bestimmten — Oberweite von 44 Zentimetern und daher einer Größe, die wir heute mit einer „44er Figur“ bezeichnen.“

In Moritz Loeb „Berliner Konfektion“ von 1906 werden folgende Maße aufgelistet:

  • 40  Büstenweite = Blaustern / Backfisch
  • 42  Büstenweite = Zweigelb / Doppelgelb / Gelbstern I
  • 44  Büstenweite, 110 Hüftmaß    =  Gelbstern / Gelbstern II (Normalmaß)
  • 46  Büstenweite = Weißstern
  • 48  Büstenweite = Grünstern
  • 50  Büstenweite = Rotstern

Mit Oberweite/Büstenweite ist hier der halbe Brustumfang gemeint. Der Gelbstern, die 44, war die gängigste Nummer.

Das Idealmaß war also üppiger als wir es heute gewohnt sind. Das bestätigt auch ein Abgleich mit Bildern der Jahrhundertwende. Blick in ein Berliner Modeatelier von 1898:

Berliner Leben, 1898

Das Thema hatten wir hier schon einmal: „Runde Schönheiten 1904“. Rundliche, weiche Formen waren in Mode.

Schnell wurde aus dem „Fräulein Gelbstern“ auch eine Figur, um die sich zahlreiche Lieder, Theaterstücke und literarische Erzählungen rankten. Die Probierdamen hatten den Ruf, leichtsinnige Geschöpfe zu sein, denen es hauptsächlich darum ging, sich von Männern aushalten zu lassen.

Brunhilde Dähn druckt dazu einige Seiten aus dem Kolportageroman „Fräulein Gelbstern“ (1905) von Hans Land ab und schreibt: „Ein Bestseller, der in keinem „heimlichen Giftschrank“ einer zeitgemäßen Herrenbibliothek fehlte: pikant, frivol und auch ein wenig skandalös!“

Natürlich habe ich mich auf die Suche nach dem Roman gemacht, aber er ist verschollen, genauso wie der Autor Hans Land (Hugo Landsberger). Ihr könnt ja mal schauen, ob sich bei euch irgendwo noch ein Exemplar versteckt und es der Allgemeinheit zugänglich machen.

In den Berliner Adressbüchern findet sich immer wieder die Berufsbezeichnung „Probierdame“, so wie hier 1920 bei Frl. Anna aus Wilmersdorf.

Eine richtige Modenschau wie wir sie kennen ist damals in Berlin noch eine Besonderheit. 1912 wird in der Zeitung vermeldet, dass im KaDeWe nach französischem Vorbild eine Vorführung der Modelle auf lebenden „Mannequins“ stattfand.

„Gelbstern“ war ein Begriff aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Später galt er als angestaubt und wurde nach und nach durch „Mannequin“ ersetzt. Die Sicht auf die Probierdame fasst dieses Stück aus aus Berliner Leben 1924 ganz gut zusammen:

Melancholische Gedanken bei der Besichtigung eines schönen Mädels
… Vielleicht täusch’ ich mich auch
Und du bist bloß Verkäuferin
In einem Herrenwäsche- oder Handschuhgeschäft;
Oder du mußt am Hausvogteiplatz als Probierdame
(Auf deutsch: Mannequin)
Der großen Kundschaft die allerneuesten Kreationen vorreiten
Und mußt Kleider tragen, die dir nicht gehören,
Die dir aber (zum Teil wenigstens)
Gehören könnten,
Vorausgesetzt, daß sich ein Kerlchen fände,
Das sie bezahlte.
Mit deiner markierten Gefühlskälte übrigens
Kannst du mir auch nicht die Bohne imponieren …

Auf Theaterbühnen führten Schauspielerinnen die Kreationen der Modefirmen vor.

1921 in Berliner Leben

„Modeschau der Bühnen … es ist bekannt, daß schöne Künstlerinnen von der Mode als Versuchskaninchen benutzt werden und auf der Bühne neue, originelle Modelle zur Schau tragen, die, falls sie Beifall finden, als Vorläufer der kommenden Mode angesehen werden können.“

1921 wird  schon von „früheren, besseren Tagen gesprochen“, in denen der Berliner Gelbstern aus „nahrhaften Gegenden“ kam und „kräftig, schlank, bei angenehmster Fülle“ war.

„Mannequin sein ist heute kein Beruf mehr, sondern ein Sprungbrett, auf dem man am sichersten in das Land der Perlenketten und Chinchillapelze, der eigenen Autos und der eigenen Villa springt.“

1925 gründet sich eine Gilde Berliner Mannequins, der ca. 400 Probierdamen angehören. Das Körperideal ist jetzt schlanker und sportlicher.

Ein Bericht aus Berliner Leben 1927 zeigt Fotos von Gelbsternen – jetzt auch 42er genannt.

Zunehmend hoffen die Frauen auch, beim Film genommen zu werden.

Wie sehr sich die Maße wohl bis heute geändert haben?  Beswingtes Allerlei vergleicht Maßtabellen ab 1935 und findet nur eine geringe Zunahme der Körpermaße, vor allem in die Breite. Sie kommt zu dem Schluss:

„… vergleicht man die Werte von 1935 mit den tatsächlich in den 90er Jahren gemessenen, dann handelt es sich durchschnittlich um Abweichung von rund 3cm. Wichtiger ist natürlich, dass die Taille eher breiter, die Hüfte scheinbar schmaler wird.“

Die Größeneinteilung nach Sternen verliert sich jedenfalls Ende der 1920er Jahre. Die Kleidergrößen werden nur noch in Nummern benannt.

1921, Berliner Leben Heft 16

Mit dem zehn Jahre später folgenden gelben Stern, dem „Judenstern“ im Nationalsozialismus hat das alles nichts zu tun, wie beim DHM nachzulesen ist. Der historische Hintergrund des diskriminierenden Kennzeichens liegt im Mittelalter, in dem Juden in vielen Ländern ein gelbes Stoffstück in Ring- oder Rechteckform außen auf der Kleidung tragen mussten.

Im deutschen Reich wurde 1941 die Pflicht eingeführt, den „Judenstern“ zu tragen. Die Berliner Stoffdruckfirma Geitel und Co. lieferte im Spätsommer 1941 rund eine Million „Judensterne“, woran eine Gedenktafel am Haus Wallstraße 16 in Berlin erinnert.

Und hier schließt sich am Ende dann doch der Kreis zur Berliner Modegeschichte, als der Gelbstern noch eine Probierdame war: Auch die Wallstraße 16 liegt im Viertel rund um den Hausvogteiplatz, wo bis 1930 die Berliner Konfektion der zweitwichtigste Wirtschaftszweig Berlins war. Das Gebäude gehörte vor der Zwangsversteigerung im Nationalsozialismus u.a. dem Textilunternehmer Jakob Berglas. Die Gedenktafel erinnert daran, dass die Familie Berglas wie die anderen Firmen jüdischer Kaufleute nach der Machtergreifung Betrieb, Eigentum und zum Teil auch ihr Leben verlor. Mehr dazu im Archiv der Berliner Zeitung anlässlich der Enthüllung des Gedenksteins.

Schönes und Schreckliches, es liegt nah beisammen, besonders in Berlin.

7 Kommentare

  1. Oh spannend, die Wandlung des Begriffes, die Hintergründe, die Details! Ich freu mich, dass Du wieder mal Zeit gefunden hast für einen Deiner so toll recherchierten, informativen Beiträge. Gerne mehr davon! lg, Gabi

  2. Hochinteressant, vielen Dank! Dieses Zitat „Mannequin sein ist heute kein Beruf mehr, sondern ein Sprungbrett, auf dem man am sichersten in das Land der Perlenketten und Chinchillapelze, der eigenen Autos und der eigenen Villa springt“ erinnert mich doch auch sehr an heutige „Promis“… eigentlich hat sich doch nichts verändert, nur angepasst. ;)

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