Gerade bin ich nicht so richtig gut gelaunt, daher hier ein paar Fotos von Menschen, die zur Zeit der Aufnahmen auch nicht in Hochstimmung waren.
Wir sind in den 1850er Jahren und haben die seltene Gelegenheit, echte Menschen aus dem ärmeren Teil des Volkes zu sehen. Die Fotos im Schweizerischen Bundesarchiv verdanken wir einer Fahndungsmaßnahme der Schweizer Polizei. Sogenannte Heimatlose, die zum fahrenden Volk gehörten oder aus anderen Gründen kein Bürgerrecht in der Schweiz hatten, sollten registriert und entweder (zwangs-)eingebürgert oder ausgewiesen werden. Der Fotograf Carl Durheim machte die Aufnahmen 1852-1853 auf Salzpapier. Die Sammlung zeigt den wohl weltweit frühesten Bestand an Polizeifotos.
Man bekommt einen Eindruck davon, wie Menschen vor 150 Jahren gekleidet waren, die sich (anders als die bürgerlichen Familien in diesem Beitrag) keinen Fotografenbesuch leisten konnten.
Oft ist gut zu erkennen, wie Knie, Ellenbogen, Knopfleisten und Jackenkanten abgenutzt sind oder wie alles zu eng ist.
Dieser Junge mit der stark geflickten Jacke und Hose hat laut Bildunterschrift 4 Aliasnahmen: „Bossard, Karl, alias Johann Peter Feible, Karl Johann Feible, Karl Knobel, Johann Stössel“.
Auf den Betroffenen lastete der „Fluch der Heimatlosigkeit“, gern verschleierten sie ihre Identität. Die Ermittler beschwerten sich über „das Verbergen der Papiere, … die stete Namensänderung und das konsequente Läugnen und Verschweigen der Verhältnisse“.
Heimatlos konnten man leicht werden und war dann zu einer fahrenden Lebensweise gezwungen. Gemeinden entzogen Bürgern aus verschiedenen Gründen das Heimatrecht, zum Beispiel aufgrund längerer Abwesenheit, einer Straftat oder einer Heirat in eine andere Konfession hinein. Insgesamt waren die Gründe für die nicht-sesshafte Lebensweise vielfältig und die Gruppe der „Vaganten“ nicht homogen – erwähnt seien nur die Randgruppen Jenische und Sinti. (Mehr dazu bei Stiftung Fahrende, der Radgenossenschaft und Wikipedia.)
Manche Frauen haben gemusterte Decken auf den Knien, Tücher in der Hand oder Körbe im Arm – Requisiten, die vielleicht vom Fotografen gestellt wurden, der sich normalerweise mit bürgerlicher Portraitfotografie beschäftigte.
Bei Männern spielen Hüte und Pfeifen als Beiwerk eine Rolle. André Matthey auf dem Foto unten hat seinen eigenen Hut in der Hand, auf dem Tisch liegt eine Schirmmütze – offensichtlich nur als Staffage.
Die Schirmmütze taucht auf einem anderen Foto wieder auf, neben einem Buch – als weitere bloße Dekoration, ist zu vermuten, denn die fotografierten Menschen waren eher Analphabeten.
Viele Männer tragen auf den Fotos weite gefältelte Kittel.
Diese Art Kittel waren meist blau und in vielen europäischen Regionen in der arbeitenden Bevölkerung verbreitet. Sie haben eine eigene interessante Geschichte (vermutlich kamen sie durch französische Fuhrsleute in Mode).
Hessischer Kuhhirt
Waren die Kittel auf den Fahnungsfotos wie eine Kostümierung inszeniert, um den Anschein der bäuerlichen Sesshaftigkeit geben? (Wird in einem Beitrag zum Thema vermutet). Ich kann das nicht so recht glauben, jedenfalls sind die Kittel sehr unterschiedlich ausgestaltet, teilweise bestickt. Da hätte der Fotograf schon eine große Kostümkiste haben müssen. Dennoch erinnern die Bilder auch an die inszenierten Einwandererfotos von Ellis Island.
Manchmal sind unter zu den Bildern auch Berufe angegeben: Korber, Geschirrhändler, Köhler, Tagelöhner, Holzschnitzer, Wedelmacher, Schauspieler.
Als Frauenberufe kommen vor: Geschirrhefterin, Seiltänzerin, Nähterin. Heimatlose hatten keine Papiere und keine Rechte, sie konnten nicht legal heiraten – weshalb auf vielen Fotos die Frauen als „Beihälterin des …“ bezeichnet werden, also als Beischläferin.
„Duardt, Elisabeth Personalien: 47 Jahre alt, Beihälterin des nun verstorbenen Lorenz Vetter von Bendorf“
Spitznamen sind Teil der Beschreibung – Sternengugger, Specksepp, Springinsfeld, seidene Clara, Hopsapudels – manchmal verbunden mit körperlichen Merkmalen, wie hier:
„Grether, Marx … vulgo Krebsscheeren“
„Suter, Eulogius, genannt Stülzfuss“
Oder die Anmerkung: „Kennzeichen – ohne Hände“
Die Fotos wurden nachgezeichnet und als Litografien im «Album schweizerischer Heimatloser» in den Kantonen zur Nachforschung verteilt.
Oben rechts Bernhard Ostertag mit Pfeife, unten das Foto dazu:
Und ein Blick in das improvisierte Fotostudio:
Hinter dem Herrn mit gestreifter Weste sieht man auf dem Boden den Ständer der Kopfstütze – die war wegen der langen Belichtungszeit notwendig, um den Kopf still zu halten.
Die Fotos hat das Schweizerische Bundesarchiv in Wikicommons hochgeladen und gemeinfrei gestellt. Nur durch diesen Schritt war es mir möglich, die Fotos zu durchforsten, Ausschnitte zu machen, sie aufzuarbeiten, die Hintergrundgeschichte zu recherchieren und hier zu präsentieren – ich hoffe, wie immer bei der Aktion #Gemeinfreitag, dass auch andere Institutionen im deutschsprachigen Raum sich einen Ruck geben und ihre Datenschätze der Öffentlichkeit gemeinfrei zur Verfügung stellen. Es gibt immer welche wie mich, die sich aus reiner Privatbegeisterung einer Sache annehmen.
Privatbegeisterung werde ich auch weiterhin brauchen. Meine gedämpfte Laune hängt mit dem vorläufigen Jahresabschluss meiner Buchunternehmungen zusammen. Sie verkaufen sich nach wie vor gut, die beiden Werke, aber die Marge, die Marge…. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Das Ergebnis lässt mich mit weiteren Projekten zögern – obwohl ich so viele gute Ideen habe und voller Tatendrang ins neue Jahr gestartet bin! Wir werden sehen.
Danke für den tollen Beitrag! Wie immer sehr interessant.
Wäre es nicht möglich, die Preise für die Veröffentlichungen zu erhöhen? Soviel Engagement, Fachkenntnis und Geschmack müssen sich doch auch mal bezahlt machen.
Freut mich sehr, dass du das Thema auch spannend findest.
Ja, die Preise müssten eigentlich höher sein, aber schon jetzt bekomme ich die Rückmeldung, dass sich einige die Bücher nicht leisten können. Der Druck und vor allem der Vertrieb des gedruckten Produkts sind leider so teuer- mit Ebooks ist alles leichter, das probiere ich noch.
Das ist ätzend. Wenn es darauf hinausläuft, entweder ein Buch zu haben, das sich nur drei Viertel aller Interessent_innen leisten kann oder gar kein Buch zu haben, fände ich die erste Option trotzdem besser. Solidarität mit Nicht-so-Wohlhabenden darf nicht heißen, dass Projekte für Bücher wie Deines nicht umgesetzt werden können. Vielleicht wäre es ja eine Option, den Preis des Buches nochmal neu festzulegen und gleichzeitig einen Solipreis, am besten für Ebooks? – Ich kann mir Dein Buch übrigens auch gerade nicht leisten, zumindest nicht guten Gewissens, aber wenn, würde ich auch mehr hinlegen.
Leider ist es ja komplizierter. Bei steigendem Umsatz sinken die Druck- und Vertriebskosten, d.h. wenn ich bei dem jetzigen Preis das 5- oder 10fache umsetzen könnte, wäre die Sache wieder interessant. Aber das ist mit so einer Indie-Aktion schwer, da haben es große Verlage sicher besser, und Publicity machen fällt mir schwer.
Als Autorin in einem großen Verlag würde ich aber auch nicht mehr verdienen als jetzt, von daher: Die Schiene ist schon ok, nur das mit den gedruckten Büchern ist zu überdenken.
Ach, das ist doch traurig. In diesen Zeiten ist es doch wichtiger denn je Spurensuche mit Blick in die Zukunft zu haben…ebooks finde ich ja blöd, bin ich doch bekennende Papier und Eselsohrenfetischistin. …kommt Zeit, kommt Rat, wirst sehen !
Zu den Kitteln fällt mir ein :vielleicht waren die eigenen Kleidungsstücke gar zu schäbig, das es mit einem Kittel besser aussah. .
Liebe Grüße
Stella
Ja, wird schon besser – mit Schnee sieht das Januar-Berlin auch gleich ein bisschen heller aus.
Kittel als gnädiges Verdeck ist eine gute Idee – mit mehr Zeit für Recherche ließe sich da sicher noch mehr rausfinden.
[…] (Mehr über diese seltene Sammlung früher Polizeifotos im Beitrag „Heimatlose und Fahrendes Volk vor 150 Jahren„.) […]