Zehn junge Frauen liegen für ein Mittagsschläfchen im Sand von Misdroy, einige tragen Schirmmützen – was ist da los? Hier nun die Fortsetzung zu Auf den Spuren eines Strandfotos – Recherchereise nach Polen. Wir hatten schon spekuliert, was für eine Szene das wohl sein könnte. Sind die jungen Frauen berufstätig? Vielleicht bei der Bahn oder in der Fährschiffahrt? Von wann könnte die Aufnahme sein? Gehen wir ins Detail:
1. Der Hintergrund
Strandkörbe gab es an den deutschen Küsten ab 1870, dazu steht mehr beim Strandkorb-Rätsel aus dem letzten Jahr. Ist der Steg im Hintergrund des Fotos vielleicht die Seebrücke, durch die Misdroy ab 1885 an den Schiffsverkehr Anschluss fand? 1914 wurde sie zerstört und erst 1921 wieder aufgebaut, das würde bei der Datierung des Fotos helfen. Der holzverschalte Steg kann aber leider nicht die Seebrücke sein, die sah sowohl vor 1908 als auch später ganz anders aus, war offen gestaltet. Die Holzverschalung und die Treppen nah am Wassersaum deuten vielmehr darauf hin, dass es sich um die Abtrennung eines Badebereichs handelt, vielleicht des Herrenbades (Postkarte von 1912), das es auch schon vor 1900 gab. Familienbad, Herrenbad, Damenbad – solche Strandabteilungen waren damals in den Küstenorten üblich. Vor allem im 19. Jahrhundert wurde noch streng nach Geschlechtern getrennt gebadet. Die Umkleiden, der Steg, die Treppe ins seichte Wasser – alles war mit Holz oder Planen vor Blicken geschützt, denn man ging teilweise noch nackt ohne Badeanzug ins Wasser.
2. Die Kleidung
Die Mehrzahl der Frauengruppe trägt bodenlange dunkle Röcke und weiße hochgeschlossene Blusen – so sah die Alltagskleidung der Frauen um 1900 aus. Dieser Einheitslook war für junge Frauen damals das, was heute Jeans und T-Shirt sind.
1898, Fechtclub (Berliner Leben)
Auf dem Fechtclub-Foto von 1898 sehen die Ärmel der Bluse noch sehr hammelkeulenartig aus – beim letzten Rätselfall hatte ich ja gezeigt, dass diese im oberen Bereich sehr aufgeblähten Ärmel ab 1872 in Mode kamen. Bei unseren Damen am Strand aber fallen die Ärmel – soweit man das sehen kann – gemäßigter aus, zum Teil bauschen sie sich auch eher nach unten hin.
Solche verschiedenen Ärmelformen nebeneinander sieht man auch bei den Berliner Wäschenäherinnen auf dem Foto unten von 1906. Ich tippe daher darauf, dass das Strandfoto jedenfalls nach 1900 aufgenommen wurde.
1906, Berliner Leben
Die Frisuren der Wäschenäherinnen passen auch zu denen auf unserem Strandfoto – hochgesteckte Haare, zu Rollen toupiert und mit einem Knoten auf dem Kopf. Dieser puffige Look hielt sich ab 1890 über zwanzig Jahre, wie man sehr schön bei den Baskteballteams sehen konnte.
Dieser Ausschnitt zeigt, dass auf dem Strandfoto noch Korsett getragen wird und unter den dunklen Rock natürlich ein weißer Unterrock gehörte. Zwei Damen in einem Strandkorb im Nachbarort Zopott sehen 1911 ganz ähnlich aus wie unsere Frauen in Misdroy:
Zopott 1911, Berliner Leben
3. Die Hüte
Kopfbedeckungen: 4 Strohhüte und 6 Schirmmützen für 10 Köpfe. Die flachen Strohhüte waren als Kopfbedeckung für Frauen Anfang letzten Jahrhunderts durchaus üblich. Diese Art Hut hatte viele Namen – Kreissäge, Butterblume, Boater, Matelot u.a. – und gehörte ursprünglich zur Sommeruniform von Matrosen. Um die Jahrhundertwende wurden sie dann vor allem für Männer ein modisches Muss.
1912, Berliner Leben
Schirmmützen aber sind für Frauen damals eher ungewöhnlich. Sind sie vielleicht Dienstmützen? Als ich das Foto zuerst sah, dachte ich sofort: Das ist bestimmt eine Szene aus der Zeit von 1914/18, denn wie schon bei „Hosen an der Heimatfront“ gezeigt, übernahmen während des 1. Weltkriegs Frauen vielfach die Arbeit der Männer und damit auch Elemente deren Kleidung.
Auf die Zeit 1914/18 möchte ich das Strandbild aber nach vielen Vergleichen mit anderen Strandfotos nicht datieren, das scheint mir zu spät. Die doch noch sehr hoch liegenden Taillen und die Frisuren sprechen dafür, dass das Foto eher früher aufgenommen ist. Wie bei der Kontrolleurin schön zu sehen ist, sitzt die Kleidung in der Kriegszeit schon lockerer. (Außerdem hätte es in dieser Zeit in Misdroy gar keinen regulären Schiffsverkehr gegeben, denn die Seebrücke war ja von 1913 bis 1921 zerstört. Eisenbahnanschluss gab es dagegen schon seit 1899.)
Wenn das Foto aber vor dem 1. Weltkrieg aufgenommen ist, wofür die Kleidung spricht, dann wären Uniformmützen als Arbeitskleidung sehr ungewöhnlich. Daher war mir auch der vorhergehende Beitrag Berufstätige Frauen um 1900 wichtig – die Stichprobe in den Jahrgängen 1900 bis 1910 der Zeitschrift ergab kein einziges Foto, auf dem eine Frau beruflich eine Uniformmütze trägt.
Ich tippe eher darauf, dass die Schirmmützen ein modischer Gag waren, ein Sommer- und Strandlook, von den Männern übernommen. In der Zeitschrift „Berliner Leben“ jedenfalls habe ich Frauen mit Schirmmütze gefunden, jeweils im Strandurlaub.


Ein bisschen stutzig macht mich nur ein hochgekrempelter Ärmel bei der Frau ganz rechts: Dort könnten hinter ein Band Fahrkarten o.ä. geklemmt sein, das würde dann doch für eine Mittagspause angestellter Frauen sprechen.
Aber, wie ihr letztes Mal schon angemerkt habt: „Zur Erinnerung an unser Mittagsschläfchen am Strand“ würde man nicht schreiben, wenn man regelmäßig mit den Kolleginnen dort Pause macht.
Der Text auf der Rückseite des Fotos deutet eher auf einen gemeinsamen Kurzurlaub der Frauengruppe hin, ich tippe auf das erste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts.
Falls ihr das Fotorätsel doch noch weiter auflösen könnte, bin ich natürlich interessiert. Den unbekannten polischen Kuchen konnte ich dank eurer Hilfe jedenfalls schon nachbacken:
Eine Kommentatorin hatte mitgeteilt, dass der Kuchen in Polen „Keks“ heißt. Es ist wohl ein Früchtekuchen, ein Keks z bakaliami (= mit Trockenobst und Nüssen). Auf deutsch habe ich hier ein Rezept gefunden, oder hier, da werden die Früchte über nacht in O-Saft und Rum eingelegt. Die leckeren, ziemlich künstlich grün-rot leuchtenden Fruchtbestandteile meines Kuchens aus Misdroy vermisse ich für die Optik etwas. Vielleicht werde ich da ja noch hier in Berlin in polnischen Geschäften fündig. Gern nehme ich weitere Rezepte in den Kommentaren entgegen, das soll ja auch ein Weihnachts- oder Osterkuchen sein.
Zum Abschluss eine Szene aus dem Misdroy von 1899
„In Misdroy angelangt, war denn ihre erste Sorge, das Meer zu begrüßen. Die Mutter war allerdings mit diesem Ritual nicht einverstanden, sie wünschte, daß jeder beim Auspacken tüchtig mithelfe. Aber in diesem Fall hätte auch eine noch stärkere Autorität die Leidenschaft der Kinder nicht bändigen können. Ungestüm eilten sie durch den Kurpark, stürmten den steilen Weg am Kurhaus vorbei zur Strandpromenade empor; hier, dem grau-hölzernen Herrenbad gegenüber, blieben sie atemlos stehen − da war es wirklich, dieses unglaubliche, durch keine Phantasie in solcher Kraft heraufzubeschwörende Element, ein stählern glänzendes Riesenschild, diese steil und schrecklich erhobene, geradezu vertikal aufgerichtete Wasserwand in weißflammender Sonne, vor der einem die Augen wehe taten.“
aus Max Brods Erinnerungen „Der Sommer, den man zurückwünscht“
Ich würde sagen es könnten schon Kolleginnen sein – wenn z.B. eine von ihnen den Dienst verlässt könnte ich mir gut vorstellen das an solch eine „Erinnerung“ dazu schreibt.
Toll, was du aus diesem alten Foto herausgeholt hast, auch über die vielen Querverweise durch die anderen zeitgenössischen Fotos. Super spannend! Danke fürs Recherchieren. lg, Gabi
Sherlock Suschna- hab ich das schonmal gesagt? :)
Ich tippe darauf dass es da eine Bude gab, die nette Kopfbedeckungen verkauft hat. Und die lustige Weiberschar hat sich kichernd eingedeckt.
Sehr amüsant zu lesen, wie immer!
ich hatte bei deinem ersten beitrag eindeutug auf echte Arbietspause getippt aber vielleicht waren diese Mützen ein modischer Gag. Auch heute gibt es modische Albernheiten, die sich gerade mal eine Saison halten, vielleicht hat das damals in Urlaubsorten angefangen und jeder ist entspannt und sagt: hier kann ich das mal machen, so ganz ohne Etikette und Klassenzugehörigkeit?! Oder eine modische Rebellion im Kleinformat, so wie das Jeanstragen auch angefangen hat. Vielleicht kommt man mal mit alten Briefen oder Tagebüchern dahinter.
Im verlorenen Kommentar zum letzten Beitrag schrieb ich u.a. von Frauen, die in den Postkartenfirmen arbeiteten als Coloristen.Das war alles Handarbeit und da gab es etliche Firmen.Ich habe noch nie ein Foto gesehen, aber die Mutter der entfernten Tante (Jg. 1901) hat so etwas gemacht nach einer Scheidung, um ihr Kind durchzubringen.Dieses mußte artig dabei sitzen, bis die Mama fertig war.Kika gab es nicht.
viele Grüße, Karen
Danke für die Info mit den Postkarten, das wusste ich nicht. Vielleicht finden wir einmal etwas dazu!
Schöne Dokumentation, danke. Kann die Schrift aus der Zeit um 1900 sein, schrieb man da nicht anders? Ich konnnte die Handschrift meiner Oma nie richtig lesen, sie benutzte zu Teil ganz andere Schreibbuchstaben. Könnte die Schrift auch später hinzugefügt sein? LG Frau Boddenliebe
Das ist ein interessanter Aspekt. Das Thema ist gar nicht so einfach, denn diese Schrift, die man schlecht lesen kann, nennt man ja allgemein Sütterlin, bei Wikipedia habe ich aber nun gelernt, dass das eigentlich die deutsche Kurrentschrift ist https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kurrentschrift. Ich weiß nur, dass die „echte“ Sütterlin erst 1911 entwickelt bis 1941 in den deutschen Schulen beigebracht wurde, daher sind die Feldpostbriefe junger Soldaten aus dem 2. Weltkrieg für mich fast unleserlich. Wenn diese Postkarte vor 1911 beschrieben wurde, wäre sie also tendenziell eher besser zu lesen als danach, es würde also passen?
Danke für den Hinweis!