Im November 1811 wird hier, in der Nähe des Berliner Wannsees, ein Untersuchungsbericht verfasst. Eine Manns- und eine Weibsperson sind am Ufer tot aufgefunden worden. Der Mann hat offenbar erst die Frau erschossen, dann sich selbst.
Der Bericht vom 22. November 1811 beschreibt die Kleidung der beiden genau.
Die Mannsperson war mit einem „braun tuchenen Überrock, weißer Battist-Musselin-Weste, grauen, tuchenen Hosen, und runden Schlappstiefeln“ bekleidet. Nur um den Mund herum hatte er ein wenig Blut.
Bei der Frauensperson in einem „weißen Batist-Kleide, blau tuchenen feinen Überrock, und weißen glassé-Handschuhen“ sah man einen blutigen Fleck von der Größe eines Talers unter der linken Brust auf dem Kleid, „welches an dieser Stelle auch verbrannt zu seyn schien.“
Das Paar hatte in einem nahen Gasthaus übernachtet und in ihren Zimmern Abschiedsbriefe hinterlassen. Kein Zweifel: Sie wollten gemeinsam sterben. Der Ehemann der toten Frau eilt herbei. Sie wird obduziert. Das Protokoll beschreibt weitere Details ihrer Kleidung:
„…feine weiße baumwollene Strümpfe, schwarze corduane Schuh mit schwarzen Band um den Fuß gebunden … und blaue seidene schmale Strumpfbänder“.
Dann heißt es noch: „Übrigens war sie mit Unterziehbeinkleidern bekleidet, und hatte sehr feine Leibwäsche.“
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Mann um den Dichter Heinrich von Kleist, bei der Frau um die vermutlich schwer an Krebs erkrankte Henriette Vogel. Wohl kein Liebespaar, nein, nur zwei in Todessehnsucht vereinte romantische Seelen. Kleist war schon länger auf der Suche nach einer Partnerin gewesen, die sich mit ihm zusammen das Leben nehmen würde. In Henriette, die verheiratete Mutter einer Tochter, hatte er eine des Lebens überdrüssige Gefährtin gefunden.
Wie könnte die Kleidung nun ausgesehen haben, die sie für ihren letzten Ausflug anlegten?
Der Mann im Überrock aus braunem Tuch, mit weißer Weste, grauen Hosen und Schlappstiefeln* ähnelte vielleicht diesen Herren:
(* Schlappstiefel, besser Schlaffstiefel, ein Stiefel, dessen Beinleder keine Steife hat, schlapp oder schlaff herabhängt, wie ein nicht aufgebundener Strumpf. Krünitz, 1827)
Wie die Französin auf dem Bild unten trug Henriette sicher eines der zu Beginn des 19. Jahrhunderts modernen weißen Kleider in antiken Stil, dazu weiße Glacéhandschuhe. Glacé war ein sehr weiches und glänzendes Ziegenleder, das mit Talkum noch geweißt werden konnte. Wegen seines „glasierten“ Aussehens wurde es Glacé genannt (von frz. glacé = eisig).
Die „corduanen“ Schuhe waren aus Corduanleder gefertigt, einem ebenfalls durch spezielle Gerbung sehr feinen, weichen Leder, das damals für Taschen oder Damenschuhe verwendet wurde. „Mit schwarzem Band um den Fuß gebunden“ sind auch die Schuhe bei dieser Frau im blauen Mantel aus dem Journal des Dames et des Modes von 1808.
Henriettes Überrock aus blauem Tuch könnte ähnlich ausgesehen haben.
Der Bericht findet es erwähnenswert, dass Henriette Unterhosen trug – eben weil das damals noch ungewöhnlich war. Beinkleider galten als männliches Kleidungsstück und waren für Frauen eigentlich gewagt. In einem satirischen Stich von 1810 über Neuerungen in der Mode wird eine Frau in Unterhosen gezeigt, richtig durchsetzen konnten sie sich aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts.
nach Gillray 1810
Wahrscheinlich hatte besonders Henriette sich für den Tod ausgesucht schön gekleidet. Ihre feine Leibwäsche mag ein Hemd gewesen sein, das sie unter einem Mieder trug, aber Einzelheiten sind schwer zu wissen, weil die Unterwäschefrage bei den Kleidern im Empirestil unklar ist. Die weißen Baumwollstrümpfe könnten wie diese im Metmuseum ausgesehen haben und die blauen Strumpfbänder, mit denen die Strümpfe über oder unter dem Knie festgebunden wurden, ähnelten vielleicht dem Exponat unten aus Schweden. Nur waren sie wohl etwas zierlicher, denn der Untersuchungsbericht erwähnt extra „schmale Strumpfbänder“.
Wie Zeugen berichten, waren Henriette und Heinrich vor ihrem Tod sehr heiter gestimmt. Sie ließen sich einen Tisch und Stühle ins Freie bringen, bestellten viel Wein und Rum, sprangen gut gelaunt herum.
Heute führt zum Grab am Ort ihres Doppel-Selbstmords ein gut ausgeschilderter Weg, den man vom S-Bahnhof Wannsee aus beginnen kann. Im Sommer gibt es sogar einen Rundgang mit Hörspiel. Ob darin auch die Kleidung der beiden erwähnt wird? Ich habe mir fest vorgenommen, das in diesem Jahr noch herauszufinden.
Vielen Dank für diesen schönen Ausflug in eine längst vergangene textile Zeit! :-)
Ich danke dir auch fürs immer wieder Vorbeischauen!
Kann man so alte Polizeiakten einsehen? Sehr akribisch die Beschreibung. Och habe mich schon oft gefragt wie gebundene Strumpfbänder im Alltag gehalten haben.Nix Elastisches gab es , da muß man sich doch fast das Bein ageschnürt haben?
Bei alten Kriminalromanen spielt die Kleidung auch oft eine große Rolle. VG
Normalerweise muss man für so etwas meist in ein Archiv, aber hier hat die Kleistforschung natürlich schon vorgearbeitet, siehe der Link oben zum Untersuchungsbericht. Über Google Books habe ich aber nun nach weiteren Beschreibungen aus solchen Untersuchungsberichten gesucht, und da findet sich einiges, gerade bei unbekannten Leichen wird die Kleidung ganz genau beschrieben, damit sich die Identität vielleicht noch klären lässt.
Könnte man noch viel mehr dazu machen, wie auch zum Thema Strumpfbänder, da gäbe es so viel herauzufinden und zu erzählen!
Vielen Dank für diesen umfassenden Bericht. Eine wahre Fundgrube!
Die Erwähnung der Kleidung ist tatsächlich ein Glücksfall, denn die Hinweise zu besagten Hosen sind doch oft dürftig. Auch Begriffe wie „feine Leibwäsche“ und die Aussagen über die Güte der Schuhe und Handschuhe sprechen Bände. Ausgewählt gute Kleidung war längst nicht mehr der Französischen Mode oder dem Adel vorbehalten, dazu ist das ein wirklich schönes Dokument (wenngleich der Anlass, die Kleidung aufzuführen, natürlich nicht sonderlich „schön“ war).
Ob diese Beschreibung der Kleidung auch in den Film „Amor Fou“ über die Kleisttragödie eingeflossen ist? Ich weiß es gar nicht mehr genau, werde Deinen Bericht aber zum Anlass nehmen nocheinmal in den Film zu schauen.
Deinen Blogeintrag werde ich gleich mal fleißig teilen, er wird sicher noch einige Gespräche anregen.
Sabine
Ja, das fand ich auch beeindruckend, wie beeindruckt die Ermittler offenbar von der Qualität der Kleidung waren – und wie nah sich Adel und Bürgertum hier schon waren. In Amour Fou hatte jedenfalls Henriette in der letzten Szene etwas Gelbes an (es war auch ein anderer Ort in Berlin, was, wie mir jetzt klar ist, auch gar nicht anders ging, denn im Originalort ist inzwischen alles von großen Villen umgeben). Den Film fand ich wegen der Ausstattung sehenswert, aber ansonsten ja echt dröge. In die Akte Kleist http://www.gebrueder-beetz.de/produktionen/die-akte-kleist stellt Meret Becker die Henriette dar, ist aber ja nur als Doku-Illustration gedacht. Die beiden Filme haben mich jedenfalls dazu gebracht, mal an den Wannsee zum Grabstein zu fahren.
Kleist-Liebhaber würden das jetzt wahrscheinlich schräg finden, wie man so in die Kleidungsfrage einsteigen kann. Dabei ist das so ungeheuer spannend und aussagekräftig.
Ein ausgesucht schöner, informativer Post, wenn auch zu einem traurigen Geschehen. Ich liebe Kleist und habe im Studium viel Zeit mit seiner Literatur verbracht. Und die Mode der Zeit ausgesprochen ansprechend, aber durchaus „undurchsichtig“ was das Darunter anbelangt.
Mehr davon!
Ach ja, es gäbe da noch so viel mehr zu erzählen und herauszufinden.
Toller Beitrag, besonders die Details zur Unterkleidung sind spannend..
[…] ein Handarbeits-Weihnachtsgeschichte ausgegraben. Dafür begeben wir uns in das Jahr 1810, und zwar wieder zu Heinrich von Kleist. Im Dezember 1810 beschreibt Kleist für die Zeitung eine […]