Seht mal was für ein schönes Weihnachtsgeschenke ich bekommen habe. Dieses alte Schulheft einer Hamburger Mädchenschule ist ein Flohmarktfund und steckt voller Materialien. Ob Kaninchenhaar, Stroh, Schilf oder Seidensamt, die Schülerin Ingrid Wulf aus Klasse 6.3 hat fast 200 Stoff- und Bandproben eingenäht.
Die Sammlung liefert nicht nur viel Material zum Befühlen und Staunen, sondern und auch die Detektivaufgabe, die Proben zu entschlüsseln und das Heft zu datieren.
Hier das Heft als Diaschau (was habe ich im Berliner Januarlicht mit den Fotos gekämpft, Hut ab vor allen, die solche historischen Dokumente einscannen!)
Die Fotos geben den Spaß des echten Anblicks kaum wieder.
Zum Beispiel Seiten wie diese: Der Weg des Flachs zum Leinen, inklusive Wurzel, Stengel und Samenkapsel.
Das Heft enthält viel Hutmacherzubehör, also auch Drahtarten. Gimpe, Reth, Balette – das wäre alles noch zu recherchieren.
Echtes Stroh in 14 Varianten. (Klick aufs Bild vergrößert die Seiten).
„Geschaffenes Material“. Viskose, Eskolene, Monteloupo, Cellophan, Rippophan, Phantasie, Celtagal…
Papierpanama, Pedalin, Racello, Neora, Viska, Cellophan mit Räupelgarn, Crinol…
Formen- und Unterlegstoffe.
Seidenstoffe
Die „Reine Seide“ ist in Anführungsstriche gesetzt, was hat das zu bedeuten?
Beim Kapitel Kaninchenhaar gibt es ein kleines Problem: Die Filzstoffe hatten wohl mal Motten?
Kann ich das mit den Löchern so lassen, oder muss ich was tun? So viele Fragen sind noch zu klären.
Mit dem Rätsel der Datierung habe ich mich zuerst beschäftigt und lag auch gleich falsch. Weil vorn auf dem Heft steht: Oberschule für Mädchen in Großflottbek dachte ich, das Heft sei vor den ersten Weltkrieg entstanden. Von 1902 bis 1916 gab es in Hamburg nämlich eine Oberschule für Mädchen Groß Flottbek, sie trug den Zusatz „hauswirtschaftliche Form“. 1916 wurde die Schule umbenannt in Bertha-Lyzeum, heute Gymnasium Hochrad. Für eine frühe Datierung sprachen auch einige im Buch enthaltenen Proben. Ein Beispiel ist die Tagalborte auf der Seite „Manilahanf“:
Die Tagalborte (für Hüte) findet sich nur in Fachpublikationen von 1910 bis 1920. „Inzwischen hat nun die Tagalbortenindustrie den ganz unerwarteten Aufschwung genommen, allerdings zum Teil auf Kosten der älteren Stroh- und Holzbortenfabrikation“ wird die Importindustrie um 1911 beschrieben. 1913 zeigt ein Haushaltsbuch , wie man die Borte verwendet.
Gegen eine frühe Datierung des Heftes spricht aber die Schreibschrift. Ingrid schreibt weder in der damals üblichen Kurrentschrift noch im später gebräuchlichen Sütterlin. Ihre Schrift ähnelt eher der modernen Schulschrift nach dem 2. Weltkrieg. Diese sogenannte „deutsche Normalschrift“ sollte ab Schuljahr 1941/42 unterrichtet werden, mit der Umsetzung dauerte es aber, auch kriegsbedingt. Zur modernen Schrift passt, dass ein Teil der Schule ab 1938 offenbar wieder amtlich „Oberschule für Mädchen in Hamburg-Groß Flottbek“ hieß, dazu gehörte ein hauswirtschaftlicher Oberstufenzug. 1948 wurde dort das letzte hauswirtschaftliches Abitur abgelegt und die Schiene eingestellt.
Ich tippe daher darauf, dass das Buch aus den 1940er Jahren stammt. Obwohl mich wundert, dass in der Kriegs- und Nachkriegszeit so viele Materialien verfügbar waren. Vielleicht hatte die Lehrerin ja noch einen Fundus von früher, das würde auch die vielen inzwischen altmodischen Zutaten erklären. In Kriegs- und Nachkriegszeiten sah der Schulstoff wahrscheinlich weiterhin die Vorkriegsthemen vor.
Noch ein paar Datierungen anderer Materialien, nach stichprobenhafter Onlinesuche:
- Cellophan 1908 bis 1950
- Celtagal 1933
- Viskaborde 1919
- Rippophan 1936
Über den Namen der Schülerin bin ich nicht weitergekommen, Ingrid Wulfs gibt es im letzten Jahrhundert einfach zu viele.
Falls hier jemand vorbeikommt und mir aushelfen kann bei der Datierung oder sonst Informationen hat, würde mich das natürlich sehr interessieren.
Abgesehen vom historischen Wert der Sammlung (die Materialien sind teilweise online gar nicht zu recherchieren) sind die Blätter auch optisch schön.
Inklusive der Befestigungsfäden auf den Rückseiten!
Hier unten hat ein Stück rostroter Atlas mit Laméfaser abgefärbt, das kleine rosa Rechteck passt perfekt.
Ein guter Begleiter für die Sammlung ist auf jeden Fall Constanzes Lexikon Stoff und Faden. Eine ganze Reihe der Begriffe im Heft werden in ihrem Buch erklärt.
Zum Wohle der historischen Textilforschung müsste ich nun eigentlich alle veralteten und vergessenen Materialbezeichnungen der Proben hier eintippen, damit sie recherchierbar werden. Vielleicht später mal. Wie gesagt, meine Hochachtung vor der Digitalisierung und Verschlagwortung solcher historischer Bestände ist enorm gestiegen. Ganz heilsam für eine, die am liebsten alle Vergangenheitsfunde umsonst und in der Public Domain hätte :) !
Liebe Suschna,
was für ein unermesslich großartiger & wundervoller Schatz – ich bin ganz ver- und bezaubert davon ♥!
Und wie schön, dass Du ihn mit uns teilst, uns so daran teilhaben lässt!
Grandios!
Herzlichst,
Ev
Und ich freu mich, dass es noch andere gibt, die sowas begeistert!
Was für ein fantastischer Fund! Der wird dich sicher noch ein Weilchen beschäftigen.
LG Malou
Ja, damit kann man noch viel anfangen!
Was für ein toller Fund! So weit bin ich mit meinem Heft nicht gekommen, denn ich wollte nicht auf den Frauenoberschulzweig meines Gymnasiums wechseln. So habe ich keine Materialkunde mehr mitbekommen….
LG
Astrid
Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht genau, was 6. Klasse in den 1940er Jahren bedeutete, wie herum zu der Zeit gezählt wurde. Muss ich auch noch rauskriegen.
Ein echter Schatz, ein tolles Geschenk. Bei den Wollstücken würde ich auf alle Fälle etwas machen.
Zum Alter gibt die Schrift leider nicht unbedingt eindeutig Auskunft, da es auch regional verteilte Reformen der Schrift gab. Meine Großvater Jahrgang 06 hat während der Schulzeit auf Latein umgeschult. Aber du hast schon recht ,vom Schriftbild hier. würde ich auch auf Nachkriesgzeit tippen, zumal linksgeneigte Schrift beim Lernen davor sicher nicht geduldet worden wäre. Das Schulheft war vielleicht einfach so vorhanden und wurde genutzt.
Ist alles wie ein textiler Krimi, oder? Könnte das nicht auch ein Lehrheft einer Putzmacherin/Modistin sein?
Viele Grüße, Karen
Ja, solche Rätselfunde sind toll und stecken zu so vielen Recherchen an. Wie z.B. die Sache mit der Schreibschrift und wo regional wie geschrieben wurde, das kriegt man ohne Spezialwissen ja kaum raus. Beim Heft habe ich auch gedacht, dass es noch von früher war, wegen der Frakturschrift, bis wann wurde die nun wieder benutzt? Wie wurden Modistinnen 1940 ausgebildet? Fragen über Fragen.
Ein interessanter Fund, und so spannend, wenn man sich näher damit beschäftigt! Ich denke auch, dass die Schrift auf Nachkriegszeit deutet. Ich fühlte mich ein wenig an meine eigene Schulzeit erinnert, ich hätte sicher auch Spaß daran gehabt, eine alte Mustersammlung aus irgendeinem Fundus neu einzusortieren. Ehrlich gesagt kann ich mir auch kaum vorstellen, dass eine Schülerin ihre Proben so wenig gleichmäßig befestigt hätte! Vielleicht handelt es sich ja um unterschiedliche Personen, die benannte Ingrid und diejenige die die Blätter gearbeitet hat? Tochter einer Modistin vielleicht? Sehr inspirierend, das alles!
Interessante Theorie, denn auf dem letzten Blatt steht hinten klein mit Bleistift „Jetta“
Im Heft gibt es einige Korrekturen mit rotem Buntstift, außerdem ist jedes Blatt unten rechts abgezeichnet.
Ein ahnenforschender Historiker hat jetzt schon mal für mich geguckt und zwei Ingrid Wolfs gefunden, die eine in Hamburg, hätte die Schülerin sein können, eine andere Ältere war Gewerbelehrerin in Lübeck…
Zu einer Gewerbelehrerin würde das Heft ja auch sehr gut passen, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass auf einer Oberschule dermaßen ausführlich Materialkunde gelehrt wurde. Vielleicht stammt es aus der Ausbildung als Gewerbelehrerin.
LG Elke (Bekleidungstechnikerin/Hutmacherin und abgebrochene Gewerbelehrerin)
Ein toller Fund! Wenigstens für uns Näh- und Textilbegeisterte. Eigentlich schade, dass so etwas heute kaum noch vorstellbar ist, allein weil heutige SchülerInnen wahrscheinlich gar nicht mehr zu solchen Sammelarbeiten zu bewegen sind. Dabei wären auch die modernen Materialien interessant: nicht nur allerlei Fasermischungen und Web-/Wirkarten, sondern auch moderne „Bastel“materialien, die man für Schmuck, Taschen und andere Accessoires verwendet.
Viele Grüße
Ursula
Stimmt, auch die heutigen Sachen sollten archiviert werden. Digital gibt es ja das Techniktagebuch https://techniktagebuch.tumblr.com/
aber da fehlt natürlich die Haptik.
Um Sicher zu gehen, das sich keine Schädlingsinsekten im Material finden, kann man das heft einfrieren. In ein Luftdichtes Gefäß packen und ab damit in die Tiefkühle. 2 Tage sollten reichen.
Tolle Sammlung !
Danke für den Tipp, das kann ich machen.
Liebe Susanne, ein wirklich spannendes Fundstück hast Du da am Wickel. Vielleicht kann Dir bei der Datierung eines der Hamburgischen Museen Weiterhelfen? Ich würde mich wohl ans Museum für Hamburgische Geschichte http://www.hamburgmuseum.de/de/home oder/und ans Schulmuseum http://www.hamburgerschulmuseum.de wenden. Bin sehr gespannt, was Du noch so rausfindest! Viele Grüße aus Hamburg, Almut
Danke für die Tipps! Vom Schulmuseum wusste ich bisher gar nichts.
Hab bloß immer ein bisschen Sorge, mit solchen Anfragen zu nerven, weil die Museen ja selten genug Personal für sowas haben :(
Spannend, sehr spannend. Ich erinnere mich auch noch ziemlich lebhaft an meine Kladde aus dem Handarbeitsunterricht (später dann in Textilgestaltung umgetauft), in die dann verschiedene Stoffproben oder Arbeitsproben eingenäht wurden, aber so ordentlich und sorgfältig war mein Heft sicher nicht. Und ganz nebenbei ist das wirklich ein schöner Flohmarktfund und eine tolle Geschenkidee.
Ein schöner Fund und eine aufmerksame Geschenkidee! Mir gefällt ja die Tatsache der eingenähten Proben (versus eingeklebt) besonders gut, da so die Optik und Haptik sicher länger erhalten bleiben. Das Einfrieren in luftdichter PE-Tüte oder Box ist ein guter Tipp. Möglichst kalt und bei möglichst trockenem Ausgangsstadium, damit keine Farbe ausläuft.
Und ja, oft ist für die Anfragen an Museen wenig Zeit (darum ja auch noch so wenig online… Danke für den letzten Satz als Balsam!) und Personal. Aber auch dafür werden solche Institutionen schließlich geführt, sind sie doch zum Bewahren, Ausstellen UND Forschen da. Nur eilig sollte man es nicht haben.
LG, Bele
Was für ein Schatz! Wie spannend all die Fragen dazu! Jetzt könnte frau sich eigentlich hinsetzen und sich zu Constanzes Buch so ein Heft anlegen, das würde ich wunderbar finden. Nein anders: Das werde ich mal machen. Begeisterte Grüße, Gabi
Hallo Schuschna,
Reth ist eine Art von Schilf, mit der in Norddeutschland traditionell Häuser gedeckt wurden. Es ist aber innen hohl. Die Probe in Deinem Buch sieht aus wie Pettigrohr ( eine dünnere Version von Rattan). Es wird in der Hutmacherei aber auch zum Versteifen von Trachtenmiedern verwendet.
Gimpe ist ein weitläufiger Begriff. In der Regel wird er für einen Faden/Schnur/Kordel benutzt, der zur Auspolsterung von Stoff oder Flächennähten dient. Mit einem Schrägband umfasst heisst sie Keder, in einem Knopfloch Legefaden.
Der Begriff Balette ist mir noch nicht begegnet, aber die Probe sieht aus wie Gorl (Knopfmacherei) bzw. Atlasschnur (Schneiderei). Das Material wird entweder als Verzierung direkt aufgenäht oder zu Kordeln und Posementen verarbeitet.
Liebe Grüße, Madam Nadelfein
Liebe Madam Nadelfein,
vielen Dank für all diese wichtigen Informationen! Könnten wir vielleicht per Email Kontakt aufnehmen? Ich plane eine Seite mit viel mehr Informationen zum Inhalt des Heftes, dabei wäre solches Fachwissen sehr wichtig. Ich bin immer erreichbar über info@textilegeschichten.net
Danke!