Insignien des Mittelstands

Mein Kochtopf ist auf der Tapisserie eines Turner-Preisträgers verewigt, mein Handy und mein Wandspiegel auch. Das ist kein Zufall, denn der britische Künstler Grayson Perry beobachtet den Lebensstil verschiedener Bevölkerungsschichten ganz genau.

Die sechs Teppiche der Serie „The Vanity of Small Differences“ (Eitelkeit der kleinen Unterschiede) von 2012 sind in der Gesamtschau zum Beispiel hier zu sehen. In Sachen Hausrat gibt es viel zu entdecken. Kochtopf und Sonnenspiegel habe ich auf dem vierten Teppichbild wiedergefunden (The Annuciation of the Virgin Deal), das den Geschmackskanon der urbanen liberalen Schicht durchspielt, bei uns auch Bionade-Biedermeier genannt.

grayson creuset GA

  • Le Creuset, gusseiserner Topf
  • Aga-Herd in Cremegelb,
  • Fliesen à la Pariser U-Bahn
  • Französischer Espressokocher
  • Drahtkorb mit Eiern
  • Kleidung in geometrisch-bunten Mustern, glatte blondgesträhnte Haare im Bob, Smartphone (she tweets)
  • Sonnenspiegel
  • Tafelfarbe (He’s calmer since his mother died)
  • Motto-Handtuch.

grayson perry marken GA

  • Kaffeepresse
  • Literaturmotto-Becher (Class Traitor)
  • Mexikanischer Totenkopf
  • poppig bezogenes Antiksofa
  • Müll-Recyclingbereich
  • CathKidston-Tasche
  • I-Pad
  • Organic-Home-Made-Local Eingemachtes mit Stoffhaube.

Einiges davon habe ich natürlich auch.

grayson perry kleider GA

Die Szenenfolge der Tapisserien wiederholt die alte Geschichte von Hogarths The Rakes Progress, es geht um den Aufstieg und Fall eines jungen Mannes. Grayson Perrys Version ist nicht nur voller moderner Anspielungen, auch alte Kunst wird zitiert. Der Lilienkrug zum Beispiel kommt von einer altniederländischen Verkündigungszene. Mit den Birkenstocks und dem Sonnenspiegel spielt Grayson Perry auf das Gemälde  Die Arnolfini Hochzeit an, hier wie dort sollen diese Details Wohlstand zeigen.

Jeder Wandteppich ist 2 mal 4 Meter groß. Die Teppichbilder wurden in Belgien auf einem Jacquard-Webstuhl nach digitalen Vorlagen gefertigt.

Die Farben sind in feinsten Garnmischungen umgesetzt.

grayson perry birkenstock1 GA

In den Szenen wird die Mittelklasse nicht nur durch den Bildungsbürger mit dem Guardian auf dem Holztisch repräsentiert, nein, Grayson Perry interessiert sich genauso für diejenigen, die mit ihrem SUV lieber Golf spielen gehen. Er nennt das „Bling vs Books“ – die Geschmacksunterschiede bestehen nicht zwischen Arbeiter- und Mittelschicht, sondern innerhalb der Mittelschicht selbst: “The important taste divide in British life is not between working-class and middle-class taste but within the different tribes of the middle class itself”.

Die Codes des nicht so bildungsbürgerlichen Mittelstandes: rot gefärbte Rod-Stewart Frisur, übertriebenes Rouge, Ohrklunker, Animalprint, Tätowierung.

Ausschnitt aus Expulsion from Number 8 Eden Close

Mich interessiert dieses Thema, weil hier in meiner Mittelklasse-Wohngegend zwei unterschiedliche Geschmacksgruppen koexistieren. Einmal eben das grün wählende Bionade-Biedermeier mit Zeitung im Briefkasten, Biogemüsekiste, Stühlen vom Flohmarkt und eigener Bienenzucht. Dazu kommen nun (oft osteuropäisch verwurzelte) „Neuwohlhabende“, die sich den Kaufpreis ihres Eigentums auf jeden Fall selbst erwirtschaftet haben, mit ihren SUVs das denkmalgeschützte Mosaikpflaster der Fußwege beim Wenden zerpflügen, uralte Bäume für Rollrasen roden und hohe Gitterzäune neben die verwunschene Buchenhecken des Nachbarn setzen. Da ich mich, wie sich der aufmerksame Leser denken kann, eher zur ersten Gruppe zähle, musste ich im Lauf der Zeit lernen, meine Vorurteile u.a. gegenüber blondierten gelifteten BlingBling-Frauen abzubauen. Inzwischen schäme ich mich meines Bildungsbürgersnobismus, der blind für ein Multikulti ist, das nicht im Hijab sondern mit Pelzkapuze daherkommt. Ich könnte nicht mehr mit Häme und Selbstgerechtigkeit (wie zum Beispiel oft die Empöreria auf Twitter) über eine Frau herfallen, deren Geschmacks- und Weltbild dem meinen nicht entspricht. Diese Milde habe ich ein bisschen auch der Menschenfreundlichkeit von Grayson Perry zu verdanken, der gern und eloquent in Dokumentationen und Interviews über seine Gedanken spricht.

Leider muss man Englisch können, um mehr über diesen tollen Mann (der auch in Frauenkleidern auftritt) zu erfahren. Auf Youtube gibt es mit ihm eine ganze Reihe Filme. Ihm zuzuhören, finde ich sehr tröstlich. Er ist weise und warmherzig, ein guter Beobachter und Analyst. Er weist auf Dinge hin, die da sind, die aber noch keiner gesehen hat. „Vogelperspektive auf die Kultur, in der wir leben“ wurde über ihn gesagt. Er: „Als Künstler ist es mein Job, Dinge zu bemerken“.

Die Tapisserie-Szenen gingen in Großbritannien auf Tour und sind jetzt gerade in Kiew ausgestellt, außerdem gab es zur Entstehung eine TV-Serie mit Grayson Perry in 3 Episoden, zum Teil auch bei Youtube zu finden.

„And if one message comes out of the whole series, it’s that good taste is that which does not offend our peers, our group” – Guter Geschmack ist, wenn es denen gefällt, zu denen wir gehören wollen.

Falls eure Peergroup Konfitüre mit Stoffmützen mag: Nahtzugabe hat dazu vor Kurzem ein Bastelset gefunden.

Nun genieße ich noch etwas frischen Ingwertee in einer japanischen Teeschale, esse dazu Rote-Beete-Chips und blättere im Ottolenghi-Kochbuch. Im Moment kann ich ohnehin nicht weg, mein Hollandrad ist von einem Porsche Cayenne zugeparkt.

 

21 Kommentare

  1. Interessanter, zum Nachdenken animierender Post über ein mir bis dato nicht bekannten (Textil-) Künstler und seine Inhalte. Mit Schmunzeln habe ich zur Kenntnis genommen, dass ich meine über fast 40 Jahre überdauernde Peergroup verlassen habe, nachdem mein LeCreuset wg. Induktionsherd abgeschafft wurde und der Nerz mit Mütze meiner verstorbenen Mutter bei mir im Haushalt bleiben durfte…Aber ich trinke noch Bionade und recycle Müll in einer neuen Anlage in meiner Küche.
    😉
    Astrid linkerhand

    • Also, geerbte Pelzmäntel haben auch ihre Peergroup, ich trage manchmal den Persianer meiner Oma spazieren – allerdings werde ich da in zwischen immer schiefer angeguckt als noch vor 20 Jahren. Wahrscheinlich weil ich nun so alt aussehe wie meine Oma.
      Wir haben Induktion und LeCreuset? Ist doch Gusseisen, komisch.

      • Noch steht die Erstanschaffung eines Le Creuset, damals am Anfang unserer Beziehung noch tatsächlich in Paris, hier im Keller. Der Herr K. wirds probieren. Danke!
        LG

  2. Danke für diese Künstlervorstellung. Ich kannte die Tapisserien noch nicht und bin ziemlich angetan. Übrigens sowohl von diesen Tapisserien als auch von deinem Sprachwitz. ;)

    Liebe Grüße,
    Sabrina

  3. Irgendwie fühle ich mich immer ertappt und peinlich berührt, wenn ich solche Aufzählungen lese… Sind wir denn nicht einzigartig? :-P

    Erinnert mich aber an mein Soziologie-Studium und die 6 (oder 8?) Kundengruppen für Werbefachleute. Seitdem habe ich die ganze, nicht wirklich geerbte, nicht wirklich von Reisen mitgebrachte Deko weggeräumt. Und jetzt freue ich mich, dass ich keinen LeCreuset habe. :-P

    • Warum ist uns das eigentlich peinlich, nicht einzigartig zu sein? Frage ich mich, seit das hier mehrere ja so bemerkt haben.
      Dann guck ich mir kurz mal zur Heilung das Fotoproject http://www.exactitudes.com/index.php?/series/all/154/5
      an, alles Menschen, die glauben, dass sie individuell sind. Ich wüsste dirket mindestens 10 Frauen, die könnte man so mit mir porträtieren, und wir sähen alle ziemlich gleich aus.

      • auch sehr gut! :) Eigentlich sind wir sowieso alle Affen (sagt mein Mann, und ich bin immer häufiger geneigt, ihm zuzustimmen. Muss so ein Altersding sein).

  4. Auch ich besitze einige der Gegenstände welche auf den Tapisserien von Grayson Perry verewigt sind. Es war unglaublich welche Diskussionen die Vorstellung dieser Kunstwerke im BBC und in der Presse auslöste in meinem so kleinen, idyllischen und traditionsbewussten Ort im Hinterland von N.Irland.

  5. Bilder nicht zu malen sondern zu weben, Tapisserie des MIttelalters, eine spannende Mixtur. Der Le Creuset (große Ausgabe in knallorange) ist das einzige Wahre für den perfekten Coq au Vin, wie ich ihn in Frankreich kennen und lieben gelernt habe… ;-) Hier dasselbe Szenario etwas weiter südlich, ich fühle mich gerade sehr ertappt… :-D Liebe Grüße und ein schönes Wochenende! Gabi

    • Vielleicht sollte ich auch mal Coq au Vin machen, mir ist das Ding eigentlich zu schwer. Uns wurde er geschenkt, von Freunden – ich hätte wahrscheinlich auch eher orange genommen. Daher fand ich es auch so irre, dass dieselbe Farbe auf der Tapisserie war, sagt viel über meine Peergroup aus.

  6. Ich hatte das grosse Vergnügen diese Tapisserien im Original zu sehen – habe mich darin natürlich auch selber wiedererkannt… wie schön hier noch einmal deine Beschreibungen dazu zu lesen. „Bionade-Biedermeier“ gefällt mir auch unheimlich gut (kann ich auf England nur schwer übersetzen/übertragen nachdem es hier (noch?) keine Bionade gibt!!).

    • Das muss in echt ganz toll aussehen, auch wegen der satten Farben.
      Sind es auf englisch nicht die Lohas? In Frankreich sagt man Bobo von bon chic, bon genre.

    • Keine Sorge, Gmundner grün weiß, anglaufenes Silber und Orientteppiche auf alten Dielen haben auch ihre sehr schöne Heimat :)Stalkerlächeln
      Davon abgesehen stimmt schon, die Beobachtungen sind ja von vor 2012, da ist schon einiges wieder out, gerade das sehr landhausmäßige, bunt-kindische. Und wenn ich ganz ehrlich bin, gehört dieser Strahlenspiegel meiner Tochter, jaja, weheartit-roominspiration.

  7. Sehr amüsiert und erfreut, dass hier auf Textil modische Wohlstandkultur besprochen wird.
    Tapisserien in dieser Art sind ja nicht mehr so gängig für unsere Zeit. Danke fürs Mitnehmen.
    viele Grüße Karen

  8. Ganz wunderbar. Ich habe mir gerade noch die entsprechende Serie angesehen und mich hervorragend amüsiert. Mich würde sehr interessieren, wie gut die Ausstellung in anderen Ländern funktioniert? Muss man anglophil sein, um genügend entschlüsseln zu können? (Le Creuset versus Penguin-Books?).
    Die Faszination für die Möglichkeiten der Jacquardweberei für Künstler kann ich gut nachvollziehen. Ich hatte die Freude, eine Arbeit von Pae White von nahem zu sehen und die Vielfarbigkeit, mit der feine Nuancen hergestellt werden ist verblüffend.
    LG, Bele

  9. Ein sehr cooler, spannender und auch überdies noch nachdenklich machender Beitrag! Gut, dass der mir nicht durchgerutscht ist, lese grade immer eher so hinterher.
    Vielen Dank!
    LG frifris

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